Berliner Hinterhof
Berlin wurde 1871 Hauptstadt des Deutschen Reiches. In der Wirtschaft begann zugleich die Gründerzeit, denn die Reparationszahlungen des Kriegsverlierers Frankreich machten günstige Kredite verfügbar, was die Bildung zahlreicher neuer Unternehmen ermöglichte. Das Kaiserreich wandelte sich so innerhalb weniger Jahre zu einem der führenden Industrieländer der Welt, Berlin wurde zur größten Industriestadt Europas. Nicht nur Großunternehmen wie Borsig oder später Siemens und die AEG hatten ihren Sitz in Berlin, auch tausende mittlerer und kleiner Betriebe entstanden hier. Der enorme Bedarf an Arbeitskräften löste eine beispiellose Landflucht aus. Berlin zog Hunderttausende an, sie kamen aus Schlesien und anderen eher landwirtschaftlich geprägten Regionen des Reiches. In der Stadt herrschte eine große Wohnungsnot, die von Grundstücks- und Bauspekulanten für eigene Interessen ausgenutzt wurde. Berlin dehnte sich weiter aus, die verfügbaren Grundstücke wurden immer dichter bebaut. In Arbeitervierteln wie Wedding, Neukölln, Friedrichshain oder Teilen Kreuzbergs entstanden „Mietskasernen“ aus Vorderhaus, Seitenflügeln und Hinterhaus, die um einen engen Innenhof gruppiert waren. Bald wurde es üblich, mehrere dieser Hinterhöfe hintereinander anzuordnen und mit Durchgängen zu verbinden. Oft lebten 2.500 bis 3.000 Menschen in einer solchen Anlage, deren Wohnungen nur minimalen Platz und kaum Luft oder Licht boten. Miserable hygienische Verhältnisse waren die Regel. Der Dichter, Maler und Fotograf Heinrich Zille fand hier sein „Milljöh“. Wie er kritisierten auch andere Sozialreformer und Politiker der Arbeiterbewegung die Wohn- und Lebensverhältnisse des Proletariats. Doch erst in den 1920er Jahren kam es in Berlin und anderen Städten zu Reformversuchen im Wohnungsbau. Die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs zerstörten viele Arbeiterviertel, einige blieben aber erhalten. Heute sind sie eher geschätzte Wohn- und Arbeitsstätten für Künstler, Studenten oder alternative Wohngemeinschaften.
|